Samstag, 4. Juli 2015

Denken wie ein Stier

Über das Verständnis der Tiere
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von Philip de Málaga



Wenn man in das Thema über Tierliebe ein wenig tiefer eintaucht, stellt sich unweigerlich die Frage, wo diese beginnt und wo endet sie. Mit seinem Haustier vom selben Teller speisen, sie unter seine Bett-Decke lassen, sie durch zementierte Strassen führen, ist es das, was die Tiere wirklich wollen? Ist es das, was wir als artgerecht definieren können: Ist die Humanisierung das menschliche Ziel des Zusammenlebens mit der Tierwelt? Tiere werden nicht selten zu Begleitungen erzogen, um mit ihnen zusammenzuleben oder als Arbeitstiere. Auch für den Sportbereich.

Im ruedo einer plaza de toros verhält es sich ein wenig anders. Dort begegnen wir etwas Einzigartigem. Das Tier, den toro, ein animalisches Wesen in seiner Individualität. Etwas was wir nicht kennen. Wir noch nicht wissen können, wie es sich verhalten wird. Versuchen es kennenzulernen, zu denken wie er. Zu erahnen, welche Gefahr dort dem torero entgegentreten wird. Diese Begegnung, diese Konfrontation mit dem Unbekannten, ist einer der besonderen Vergnügen, welchem den aficionado in den Bann der Leidenschaft, der afición taurina zieht.

Das toril öffnet sich und der toro betritt das Geschehen. Man sieht ihn, man beobachtet ihn, man analysiert ihn, man versucht sein Verhalten zu entschlüsseln und für die meisten Zuschauer in den tendidos und sogar den professionellen matador selbst das erste Mal, das er jenes anrasende Wesen zu Gesicht bekommt.

Da betritt der toro das ruedo ein neues Terrain mit neuen Gefahren.
(Foto: Dr. Andreas Krumbein)
Zwar verfügen die toreros über gewisse Erfahrungswerte, auch einige aficionados. Trotzdem begegnen auch sie etwas Neuem. Etwas Unbekannten. Genauso wie der toro selbst. Auch er betritt ein ihm unbekanntes Terrain, in welchem er sich bedroht fühlt, auch weil die barrera ihm keinen Fluchtweg zulässt. Und noch etwas ist neu für ihn. Bei der klassischen lidia a pie begegnet er in der Regel das erste Mal einem Menschen zu Fuss, der auf ihn wie eine Bedrohung wirkt. Vor allem das, was sich bewegt, wie capa und muleta, bis er erkennt, dass es nur vorgetäuschte Gefahren sind.

Und während das animal so durch das ruedo prescht stellen sich dem Beobachter viele Fragen. Je erfahrender der Betrachter um so schwieriger wird jene Beantwortung. Warum positioniert sich der toro vorwiegend an dieser Stelle? Was reizt ihn hier, warum fühlt er gerade dort sich sicherer? Warum hält er welchen Abstand zu den toreros ein? Warum greift er eigentlich erneut an, obwohl seine vorherigen Angriffe ergebnislos, eventuell sogar schmerzvoll waren? Was sieht ein toro, was nimmt er wahr und worauf fixiert er sich besonders? Was lässt er ausser acht? Wo setzt er Prioritäten?

Mit den Augen des Stieres
Den toro zu beobachten und ihn zu verstehen ist eine der fundamentalen Aufgaben der toreros und aficionados. Eine Art animalische Verhaltensforschung die in ihrer Darbietung und Ausführung einmalig ist. Und die Grundvorraussetzung für einen toro bravo, dem es gelingt im Zusammenspiel mit dem matador den duende oder ähnliche Emotionen in die tendidos oder den callejón zu tragen, ist seine psychische wie physische Kondition. Und dies wiederum ist das Ergebnis seiner Zucht, seines bisherigen Lebens auf den weiträumigen dehesas der ganaderías. Und es unterstreicht wie schwierig es für einen ganadero ist, einen erfolgreichen toro für die corrida zu züchten.

Was auch immer im Rund einer plaza de toros geschieht, der französische Philosoph Francis Wolff sieht es eindeutig: "Wir sind weit davon entfernt, dabei eine perverse Freude zu empfinden!" Wie in einem runden Klassenzimmer lernen wir dabei stetig mehr über Verhalten und Umgang. Wenn wir in der Lage sind, animalische Verhaltensweisen richtig zu analysieren und zu deuten, dann können wir diesen Weg der neu erworbenen Erkenntnisse auch auf Menschen übertragen. Zumindest mehr Feingefühl dafür zu entwickeln.