Montag, 6. Januar 2014

Literatur als Stierkampf




von Michel Leiris
__________________________________________________________________________




eingestellt von Dr. Andreas Krumbein



(Foto: Anya Bartels)
„Ganz allgemein lässt sich sagen, die Stierkampfregel verfolge einen hauptsächlichen Sinn: nicht nur verpflichtet sie den Menschen, sich ernstlich in Gefahr zu bringen (und waffnet ihn zugleich mit einer unentbehrlichen Technik), verpflichtet ihn also, sich nicht auf beliebige Weise seines Gegners zu entledigen und verhindert, daß der Kampf in ein bloßes Abschlachten ausartet; so haarspalterisch wie ein Ritual, bietet sie einen taktischen Aspekt (das Tier so weit zu bringen, dass es den Todesstoß empfangen kann, ohne es jedoch mehr als nötig ermüdet zu haben), aber sie bietet auch einen ästhetischen Aspekt: im gleichen Maße wie der Mensch ‚sich profiliert’, wenn er seinen Degenstoß verabreicht, wird dieser Anspruch in seiner Haltung liegen; im gleichen Maße, wie seine Füße unbeweglich bleiben, während die capa sich langsam bewegt, im Ablauf einer Folge abgezirkelter und eng miteinander verbundener Ausfälle, wird er mit dem Tier zusammen diese blendende Komposition bilden, wo Mensch, Mantelstoff und schwer gehörnte Masse durch ein Spiel gegenseitiger Einwirkungen miteinander vereinigt scheinen: alles trägt dazu bei, kurz gesagt, dem Aufeinanderprall des Stieres und des toreros einen skulpturalen Charakter aufzuprägen.“ 

_____________________________________________________________________
Quellennachweis:
Michel Leiris: Literatur als Stierkampf 
Seite 7-22 in: Mannesalter, Band 427 der Bibliothek 
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, 1975, ISBN 3-518-01427-7