Donnerstag, 16. Oktober 2014

Eine Lanze für den Toro de la Vega (2. Teil)

Eine Stellungnahme zu den Tötungsritualen von Stieren
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von Dr. Andreas Krumbein


Die Durchführung des Tötungsrituals ist etwas Besonderes. Es geschieht nur selten,
Der pregonero 2014 André Viard
manchmal nur einmal im Jahr. Man bereitet sich vor, man macht sich fein, man ist aufgeregt, man will dabei sein, es miterleben, vielleicht in direkter Aktion daran teilnehmen. Man feiert ein Fest, das Tötungsritual selbst ist eine öffentliche Zeremonie. Man erlebt bei sich selbst und anderen manchmal starke Emotionen. Danach ist man zufrieden. Manchmal, nicht immer. Man geht essen und trinken. Man hat den Tod erlebt, gesehen wie er zugefügt wurde – vielleicht hat man ihn selbst zugefügt – und eingetreten ist, man hat Lebensgefahr mit angesehen und beobachtet, wie durch das Aufwenden von Mühen und durch das Annehmen von Risiken ein Ziel auf einem Weg voller Gefahren erreicht wurde. Vielleicht ist man den Weg ein Stück weit selber gegangen und hat es selber erlebt und gespürt.

Und warum machen die das? Warum tun Menschen Dinge, die andere als grausam empfinden? Ist der Mensch vielleicht einfach so? Warum ist der Mensch manchmal grausam zu Tieren? Warum ist er es manchmal zu Menschen? Welche Umstände oder Gegebenheiten müssen vorliegen, damit ein einzelner Mensch grausam ist, welche, damit eine Gruppe es ist? Was bedeutet es, wenn eine Gruppe von Menschen eine geplante, organisierte Grausamkeit an einem Tier verübt? Was bedeutet es, wenn eine solche Gruppe dies an einem anderen einzelnen Menschen oder an einer anderen Gruppe verübt? Warum passiert so etwas immer wieder, unvorhersehbar und in fürchterlichster Ausprägung, gegenüber anderen Menschen? Ist es im Menschen, vielleicht in jedem einzelnen, angelegt, dass er zum aktiven Täter wird, wenn die Umstände und Gegebenheiten in bestimmter Weise vorliegen? Kann man diese Umstände und Gegebenheiten antizipieren, für einen einzelnen oder eine Gruppe? Kann man das Auftreten von Grausamkeiten gegen Menschen steuern, begünstigen oder verhindern? Kann die organisierte Grausamkeit gegen Tiere als Steuermechanismus dienen? Dient die organisierte Grausamkeit gegen ein Tier, in Anlehnung an seit Jahrtausenden erlebte Jagd- und Kampferfahrungen und ausgeübte Opferrituale und eingebettet in althergebrachte Riten, Symboliken und Gebräuche der Stabilisierung der Gemeinschaft zur Abwehr von Angriffen und Gefahren, die von innerhalb und außerhalb der Gruppe das Bestehen der Gemeinschaft bedrohen und zerstören könnten?  

Ein Raketenschuss, dann ein Knall – es beginnt. […] Der Stier Presumido stürzt mit seinen fünfhundert
Volante, Toro de la Vega 2012 (Foto: Gerardo Abril)
Kilogramm die Gasse abwärts in Richtung Fluss. Vor und hinter ihm rennen die Mutigsten. Jetzt hat er die Brücke erreicht und biegt in das offene Gelände ein. Der entscheidende Moment kommt. Noch hundert Meter bis zur Fahne.
Presumido schaut nicht zur Seite, er läuft und läuft. Reiter sprengen heran und flankieren ihn. Bei der Fahne ein Gewirr und dann eine große Staubwolke: die Lanzenmänner haben den Stier verpasst. Verzweifelt rennen sie ihm mit ihren langen Stangen nach. Presumido ist zu schnell. Er läuft geradeaus und sucht Schutz im Pinienwald. Einen Kilometer später macht er am Waldrand halt. Die Verfolger holen ihn ein. Eine erste Lanze fährt in seine Flanke. Presumido dreht ab und flieht in den Wald, die Lanzen­kämpfer hintendrein. Der sandige Boden macht ihnen schwer zu schaffen. Auf der anderen Seite des Waldes erreicht ihn Felipe Abril, El Carpita, als erster. Drei-, viermal fährt seine Lanze in die schwarze Flanke des Tieres. Presumido fällt in die Knie. Er steht nicht mehr auf. Langsam
 sickert sein Blut in den Boden. Eine Minute später ist er tot. So beschreibt Werner Herzog die an eine paläolithische Jagd erinnernde Stierhatz des Toro de la Vega, die jedes Jahr am zweiten Dienstag des September in Tordesillas (Provinz Valladolid) am Río Duero stattfindet. Der alte Brauch, heute mehr ein Turnier, hat seine Regeln: Der Stier darf erst ab der Fahne angegriffen werden, und wenn er die Gemeinde­grenze erreicht, ohne dass ein Lanzenträger zum Stoss gekommen ist, wird er begnadigt. Wer aber den Stier erledigt, gilt als der Geschickteste, Schnellste, Stärkste und bekommt den untersten, buschigen Teil des Schwanzes als Trophäe zugesprochen, die er auf seine Lanze steckt; früher waren es die Hoden.“ [1]

Moscatel der ganadería Victorino Martín, Toro de la Vega 2009 (Foto: mundotoro)
Aber die Kunst! Was ist mit der Kunst? Die Kunst ist das Totschlagargument, mit dem sich der aficionado selbst die Grube gräbt. Die Kunst dient der Ausschmückung, der Verzierung, sie ist ein Element der Vervollkommnung, sie ist wie goldene alamares auf der chaquetilla, sie ist die Maraschino-Kirsche auf dem Sahnehäubchen. Sie ist Kultiviertheit, Geschmack, Stil und Eigenart, doch sie ist nicht der Grund, warum die Menschen zu den Stieren gehen, weder bei der corrida, noch bei den festejos populares, sie war nie der Grund und wird es nie sein. Wer die Kunst im Zusammenhang mit der corrida de toros verwendet, hat meist nicht einmal definiert, was er damit meint. Hat er es, so versäumt er in der Diskussion mit seinem Gegenüber zu erörtern, was der denn unter Kunst versteht. Und so redet man aneinander vorbei und um den heißen Brei. Das Argument und die Konzentration auf die Kunst dienen dazu, die Grausamkeit, die bei jeder corrida de toros in mehr oder weniger starkem Maße für den Einzelnen wahrnehmbar ist, zu verbrämen und erträglich zu machen, so lange bis man sie erfolgreich verdrängt hat. Doch wer zu den Stieren geht, muss sich gerade diesem Aspekt stellen, der Grausamkeit. Jedes gewaltsame Töten eines Lebewesens hat etwas grausames, manchmal mehr, manchmal weniger, und für unterschiedliche Menschen auf verschiedene Art und Schwere. Solange der Mensch tötet, muss er sich der von ihm ausgehenden Grausamkeit bewusst sein und sie sich aktiv bewusst machen. Auch dazu dienen die Stiere.

Stellvertretend für die Vielzahl von festejos populares mit Stieren breche ich hier eine Lanze für den Toro de la Vega und für die Art und Weise, wie er von einer Gemeinschaft von Menschen zu Tode gebracht wird. Ob ich selber als Beobachter eines so ausgeführten Tötungsrituals das Geschehen ertragen könnte, gälte es noch unter Beweis zu stellen. Trotz allem: die festejos populares sind die direkten Vorfahren der corrida de toros, vielleicht ihre ungehobelten Verwandten vom Lande. Die mag man unangenehm finden oder vielleicht sogar hassen. Verraten oder umbringen darf man sie nicht.  

Im Übrigen: die Tradierung der Hintergründe und Bedeutung der althergebrachten Riten, Symboliken und Gebräuche, ihre Verteidigung gegen Angriffe und Abschaffung und das öffentliche Stellungbeziehen in Medien und Diskussionen in Spanien, wer übernimmt das?

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Quellennachweis:

[1] Rolf Neuhaus, Der Stierkampf, eine kleine Kulturgeschichte, Insel Verlag, Frankfurt am Main, 2007


Weitere Informationen zu diesem Thema:


Offizielle Webseite: Patronato del Toro de la Vega

Reinhard Haneld, Taurosophie 
Karl Braun, Der Tod des Stieres, Fest und Ritual in Spanien, Verlag C. H. Beck, München, 1997
Lorenz Rollhäuser, Toros, Toreros, Rowohlt Taschenbuchverlag, Reinbeck bei Hamburg, 1990
Rainer Bischof, Heilige Hochzeit, Böhlau Verlag, Wien, München, Weimar, 2006